Rund ein Jahr nach den Wahlen in Bosnien und Herzegowina, die am 7. Oktober 2018 stattfanden, ist das Land noch immer ohne Regierung. Zwar wurde am 5. August 2019 zwischen den Vorsitzenden der drei führenden Parteien – der Partei der Demokratischen Aktion (Stranka Demokratske Akcije [SDA]), der Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten (Savez Nezavisnih Socijaldemokrata [SNSD]) und der Kroatischen Demokratischen Union (Hrvatska Demokratska Zajednica [HDZ]) – ein Abkommen über die Prinzipien der Regierungsbildung abgeschlossen. Da nach Ablauf von 30 Tagen das Abkommen seine Gültigkeit verlor, steht nun erneut die Frage im Raum, wie die Hauptkonfliktpunkte zwischen den drei führenden Parteien überwunden und eine neue Regierung gebildet werden kann.
NATO-Annäherung als Konfliktpunkt
Der größte Konfliktpunkt, woran die Bemühungen zur Regierungsbildung derzeit scheitern, ist das Verhältnis zwischen Bosnien-Herzegowina und der NATO. Im Dezember 2018 verkündeten nämlich die Außenminister*innen des Militärbündnisses ihre Bereitschaft zur Entgegennahme von Bosniens erstem nationalen Jahresprogramm (Annual National Programme [ANP]), das als Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen Bosnien und der NATO dienen sollte.[1] Dadurch würde auch der Membership Action Plan aktiviert werden, der Länder, die der NATO beitreten möchten, dabei unterstützen sollte, allerdings nicht automatisch in eine NATO-Mitgliedschaft mündet. Milorad Dodik, der serbische Vertreter des dreiköpfigen Staatspräsidiums Bosnien-Herzegowinas, stellte sich jedoch gegen eine Verabschiedung des nationalen Jahresprogrammes. Auch das Anfang August geschlossene Abkommen zur Regierungsbildung konnte diesen Streitpunkt nicht aus dem Weg räumen: So wurde darin lediglich festgehalten, dass das bisherige Verhältnis zur NATO vorangetrieben werden sollte, ohne vorab über eine zukünftige Mitgliedschaft zu entscheiden.[2] Da aber die bosniakisch dominierte SDA und die HDZ, die sich als Vertreter der kroatischen Volksgruppe sieht, die Wahl des serbischen SNDS-Kandidaten Zoran Tegeltija zum Ministerratsvorsitzenden mit der Bedingung verknüpften, dass das nationale Jahresprogramm für die NATO verabschiedet werde, scheiterte dieses Abkommen. Hierbei wurde also, wie es der Sarajevoer Literaturprofessor Enver Kazaz ausdrückte, eine im Prinzip technische Frage in eine strategische umgewandelt.[3]
Blockade durch ethnisch-nationale Fragmentierung
Wie anhand der NATO-Frage ersichtlich, ist auch das ethno-national strukturierte politische System Bosnien-Herzegowinas für die derzeitige Regierungsblockade verantwortlich. Dieses beruht auf dem 1995 geschlossenen Abkommen von Dayton, das den damals seit dreieinhalb Jahren herrschenden Krieg in Bosnien und Herzegowina beenden sollte. Dementsprechend visierte dieser Vertrag eher eine Machtverteilung zwischen den Konfliktparteien als eine langfristige, funktionierende Nachkriegsordnung an. Damit verknüpft ist ebenso der in der heutigen Verfassung festgehaltene Grundsatz, dass Kroat*innen, Serb*innen und Bosniak*innen die konstituierenden Volksgruppen Bosnien-Herzegowinas bilden.[4] Daraus wiederum folgt, dass diese drei Volksgruppen in dem dreiköpfigen Staatspräsidium durch je eine(n) Vertreter*in und im Oberhaus des Parlamentes durch je fünf Vertreter*innen repräsentiert werden. Nicht zuletzt hängt damit auch zusammen, dass sich die führenden Parteien hauptsächlich als Repräsentanten ihrer jeweiligen Volksgruppe sehen: die SDA als Sprachrohr der Bosniak*innen, die SNSD als Vertretung der Serb*innen und die HDZ als Repräsentanz der Kroat*innen. Diese Konstellation führt dazu, dass politische Entscheidungsprozesse häufig blockiert werden und Kompromissfindungen äußerst schwierig sind.
Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in dem sogenannten “Sejdić-Finci”-Urteil im Jahr 2009 das derzeitige politische System Bosnien-Herzegowinas als Verletzung der Menschenrechtskonvention einstufte, da nur Angehörige der drei konstituierenden Volksgruppen das passive Wahlrecht genießen und Minderheiten davon ausgeschlossen werden, wurde dieses Urteil bisher nicht umgesetzt.[5] Allerdings hat nun die bosniakisch dominierte Partei SDA am letzten Parteitag vom 14. September 2019 eine Deklaration verabschiedet, wonach Bosnien-Herzegowina eine Republik mit gleichberechtigten bosnischen Staatsbürger*innen werden sollte. Demnach sollte das politische System nicht mehr nach der Zugehörigkeit zu den drei Volksgruppen strukturiert sein und es sollte nur noch eine(n) Präsident*in geben. Diese Deklaration stößt allerdings bei kroatischen und serbischen Politiker*innen auf vehemente Ablehnung; Milorad Dodik, der serbische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium, drohte sogar mit einer Abspaltung der Teilrepublik Republika Srpska im Falle einer Umsetzung dieser Deklaration.[6] Folglich führt diese Deklaration kaum zu einer Überwindung des derzeit ethnisch-national fragmentierten Systems, sondern vertieft noch die Kluft zwischen den drei führenden Parteien.
Die EU als Vermittler in Bosnien-Herzegowina?
Die EU versucht in der vorherrschenden Regierungsblockade als Vermittler aufzutreten. So ist das am 5. August 2019 geschlossene Abkommen unter der Intervention vom ehemaligen EU-Sonderbeauftragten in Bosnien Lars-Gunnar Wigemark zustande gekommen. Doch auch sein Nachfolger, der österreichische Diplomat Johann Sattler, betont die Wichtigkeit einer möglichst raschen Regierungsbildung.[7] Nicht zuletzt ist eine funktionierende Regierung grundlegend für eine weitere Annäherung Bosniens an die EU. Daher sollte die EU durchaus Interesse an einer schnellen Überwindung der Regierungsblockade zeigen und dabei verdeutlichen, dass die Lösung der NATO-Frage beziehungsweise die Verabschiedung eines nationalen Jahresprogrammes eine rein technische Frage und keine Entscheidung für oder gegen einen NATO-Beitritt ist. Allerdings kann – wie es das Scheitern des im August geschlossenen Abkommens gezeigt hat – eine Regierungsbildung nur gelingen, wenn die Parteien von sich aus einen Kompromiss finden. Und das größte Hindernis hierbei ist die ethnisch-nationale Fragmentierung. Doch eine Lösung dieser Hürde kann nicht allein die EU bewirken; dies musste sie nämlich bereits angesichts des “Sejdić-Finci”-Urteils des EGMR einsehen. Denn obwohl die EU die Implementierung des Urteils zunächst als Voraussetzung für eine Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens festlegte, wurde dieses im Jahr 2015 ratifiziert, ohne dass das EGMR-Urteil umgesetzt worden ist.[8] Allerdings wird auch die kürzlich von der SDA verabschiedete Deklaration zur Umwandlung Bosnien-Herzegowinas in eine Republik mit gleichberechtigten Staatsbürger*innen kaum zu einer Einigung zwischen den ethno-national ausgerichteten Parteien führen. Eine nachhaltige Lösung kann daher nur durch einen gemeinsam erarbeiteten Kompromiss zwischen den drei führenden Parteien – der SDA, SNSD und der HDZ – erreicht werden.
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[1] Dies geschah, obwohl im Jahr 2010 dafür die Bedingung aufgestellt wurde, dass das Militäreigentum auf gesamtstaatlicher Ebene Bosnien-Herzegowinas registriert werde. Dies lehnte allerdings die serbische Teilrepublik Republika Srpska ab, weshalb eine solche Registrierung bis anhin nicht erfolgt ist. Siehe Schiffers, Sonja (2018): Gespaltenes Bosnien-Herzegowina: Mit Moskaus Unterstützung bremst die Republika Srpska die EU- und Nato-Beitrittsprozesse, in: SWP aktuell 47/2018, online unter https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2018A47_sfs.pdf (01.10.2019), S. 2.
[2] Sandić-Hadžihasanović, Gordana (2019): Deset mjeseci nakon izbora SDA, HDZ i SNSD formiraju vlasti BiH, in: Radio Slobodna Evropa, 05.08.2019, online unter https://www.slobodnaevropa.org/a/izetbegovic-dodik-i-covic-dogovorili-formiranje-vlasti-u-bih/30093499.html (01.10.2019).
[3] Karabegović, Dženana (2019): Istekao rok za formiranje vlasti: BiH između Vašingtona i Moskve, in: Radio Slobodna Evropa, 05.09.2019, online unter https://www.slobodnaevropa.org/a/bih-vasington-moskva-vijece-ministara/30147978.html (01.10.2019).
[4] Constitution of Bosnia and Hercegovina, in: Website Office of the High Representative, online unter http://www.ohr.int/ohr-dept/legal/laws-of-bih/pdf/001%20-%20Constitutions/BH/BH%20CONSTITUTION%20.pdf (01.10.2019), S. 2.
Gemäß der Volkszählung aus dem Jahr 2013 sind über 50 % der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas Bosniak*innen, 15 % Kroat*innen und 30 % Serb*innen. Neben diesen drei Volksgruppen bilden Roma und Jüd*innen größere Minderheiten. Siehe Agencija za statistiku Bosne i Hercegovine (2016): Popis stanovništva, domaćinstava i stanova u Bosni i Hercegovini, 2013: Rezultati popisa, online unter http://popis2013.ba/popis2013/doc/Popis2013prvoIzdanje.pdf (01.10.2019), S. 54.
[5] Dieses besagt, dass Bosnien-Herzegowina gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstoße, da Nicht-Angehörige der drei konstituierenden Volksgruppen (KroatInnen, SerbInnen, BosniakInnen) weder für das Präsidentenamt kandidieren noch in die Volkskammer gewählt werden können. Siehe Wölkner, Sabina (2013): Bosnien und Herzegowina, die EU und das Urteil “Sejdic-Finci”: Countdown für Verfassungsreform läuft, in Website Konrad-Adenauer-Stiftung. Auslandsbüro Bosnien und Herzegowina, online unter lhttps://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=33735094-2d06-5d46-f5e4-af3145c70cda&groupId=252038 (01.10.2019), S. 1-2.
[6] Karabegović, Dženana (2019): SDA deklaracijom stvari vratila na predratno stanje, in: Radio Slobodna Evropa, 16.09.2019, online unter https://www.slobodnaevropa.org/a/stranka-demokratske-akcije-deklaracija-predsjednik/30167013.html (01.10.2019).
[7] So etwa erst kürzlich bei einem Treffen mit Vertreter*innen der Volkskammer Bosnien-Herzegowinas: Sattler, Johann (2019): Tweet auf Twitter, 26.09.2019, online unter https://twitter.com/josattler/status/1177583730619277312 (01.10.2019).
[8] European Commission (2019): Analytical Report: Commission Opinion on Bosnia and Herzegovina’s application for membership of the European Union, SWD (2019) 222 final, 29.05.2019, online unter https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20190529-bosnia-and-herzegovina-analytical-report.pdf (01.10.2019), S. 5.
Autorin
Ninja ist Vize-Präsidentin von Ponto und Doktorandin an der Universität Wien. Neben ihrem Engagement bei Ponto forscht sie zu Ehen und Geschlechterverhältnissen in der islamischen Rechtspraxis im habsburgischen Bosnien-Herzegowina.