Notwendige Wahrheiten werden angesprochen

Warum die Österreichische Sicherheitsstrategie ein “Zeitenwenderl” darstellt

Blog Post – von Michael Stellwag

In der neuen Österreichischen Sicherheitsstrategie wird angesprochen, was seitens der Politik oder im öffentlichen Diskurs zu kurz kommt und viel öfter, viel deutlicher und viel bestimmter angesprochen werden müsste: Österreichs konventionelle und hybride Sicherheitslage hat sich dramatisch verschlechtert. Die militärische Neutralität muss im Kontext der europäischen Solidarität und Sicherheitsarchitektur gesehen werden. Österreich braucht daher aus Eigeninteresse eine vertiefte Kooperation mit seinen NATO-Partnern. Zur inneren Sicherheit gehört auch demokratische Resilienz und gesellschaftliche Wehrhaftigkeit.

Auch wenn kaum jemand so knapp vor der Nationalratswahl noch damit gerechnet hätte: Die neue Österreichische Sicherheitsstrategie 2024 (ÖSS) wurde am 28. August 2024 im Ministerrat beschlossen.[i] Ihre bis heute gültige Vorgängerin stammt aus dem Jahr 2013 und betrachtet u.a. Russland noch als Partner. Allein das demonstriert, dass eine Neufassung notwendig war. Im Zuge dieses Prozesses nominierten alle Parlamentsparteien Expertinnen und Experten und waren über die jeweiligen Wehrsprecher[ii] inkludiert. Die detaillierte Ausarbeitung erfolgte durch die entsprechenden Ministerien, ergo durch die Koalitionsparteien[iii].   

Inhaltlich ist die Strategie am Puls der Zeit, multiple sicherheitspolitischen Dynamiken und Bedrohungsszenarien wurden sorgfältig integriert. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der gleich zu Beginn deutlich genannt wird[iv], und Russlands militärische und hybride Bedrohungen haben die Sicherheitsarchitektur Europas erschüttert und die innere und äußere Sicherheitslage fundamental verändert. Insgesamt hat sich die geopolitische Lage dramatisch verschlechtert.

Europäische Solidarität > Neutralität

Militärische Neutralität und europäische Solidarität werden als die zwei Pfeiler der österreichischen Sicherheitspolitik genannt. Das Szenario eines militärischen Angriffs auf die EU wird als „wahrscheinlicher geworden“ eingeschätzt als früher, was auch mit Blick auf die EU-Beistandsverpflichtung mit einkalkuliert wurde: Europäische Solidarität ist keine Einbahnstraße; sie beruht auf Vertrauen und Gegenseitigkeit. […] Dies umfasst auch etwaige Hilfe und Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 42 Absatz 7 EUV (Vertrag über die Europäische Union) im Einklang mit der österreichischen Bundesverfassung.“[v] Österreich wäre im Falle eines Angriffs auf einen EU-Staat grundsätzlich zu militärischer Hilfe verpflichtet, was auch im Einklang mit dem hier angedeuteten Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität stehen würde.[vi] Man lässt bewusst offen, ob die Hilfe humanitär, wirtschaftlich oder eben militärisch wäre, aber der Verweis auf die Beistandsverpflichtung und europäische Solidarität stellt zweifelsohne eine gewisse kommunikative Weiterentwicklung dar, die auch dringend notwendig ist.

Beziehungsstatus: Platonische Fernbeziehung mit NATO?

Unerwartet deutlich wird die Bedeutung der NATO für Österreich hervorgehoben. Unerwartet deshalb, weil die Allianz der meisten westlichen Demokratien in der Öffentlichkeit eher skeptisch betrachtet wird und man sich von politischer Seite in vielen Fällen bemüht, dem österreichischen Engagement keine große Sichtbarkeit zu schenken.[vii] In der ÖSS wird die (seit einigen Jahren strategische und enge) Kooperation zwischen NATO und EU als „ein entscheidender Träger der europäischen und damit österreichischen Sicherheit“ anerkannt.[viii] Österreich will sich sogar verstärkt an militärischen Kooperationsformaten und Übungen beteiligen. Damit wird durchaus die relativ unbeachtete Praxis der letzten Jahre festgehalten, die nun scheinbar vor allem zum Zwecke der Interoperabilität der österreichischen Streitkräfte vertieft werden soll. Wie steht es also um das Verhältnis Österreichs zur NATO? Man könnte sagen, es handelt sich um eine platonische Fernbeziehung, Österreich braucht sie, hält sie aber (noch) auf Distanz, und den Kindern erzählt man es erst, falls es ernst wird.

Breiter Sicherheitsbegriff und stärkerer Wehrwille

Neben dem vorrangigen Ziel des Schutzes der eigenen Souveränität gegen innere und äußere Bedrohungen wird auch eine gesamtstaatliche Krisenvorsorge gefordert. Diese bedarf eines breiteren Sicherheitsbegriffs. Neben Migration, Klimawandel und Cyberkriminalität wird daher auch der Ausbau der Resilienz gegenüber Desinformation, hybriden Bedrohungen sowie die Stärkung des demokratischen Wertebewusstseins und gesellschaftlicher Zusammenhalt als Teil einer umfassenden Landesverteidigung angeführt. Gerade diese geistige und gesellschaftliche Dimension muss unbedingt intensiv vorangebracht werden, denn bei der Wehrhaftigkeit liegt eine paradoxe Situation vor:  So wollen im Falle eines bewaffneten Angriffs nur etwa 14% der Bevölkerung Österreich militärisch verteidigen, während aber 72% die militärische Unterstützung von anderen EU-Staaten einfordern.[ix] Beim Wehrwillen gibt es gelinde gesagt also viel zu tun.

Fazit: ZeitenwenderlInsgesamt werden in der ÖSS Positionierungen verlautbart, die zumindest in Fachkreisen bekannt sind und Vorhaben, die bereits pragmatisch oder zaghaft umgesetzt werden. Gleichzeitig werden auch gern ignorierte Wahrheiten klar und proaktiv kommuniziert. Das sind das Bekenntnis, die militärische Neutralität im Kontext europäischer Sicherheitsarchitektur zu behandeln und, dass die vertiefte Kooperation mit NATO-Partnern aus Eigeninteresse notwendig ist. Diese Entwicklung ist keine Zeitenwende wie in Deutschland, aber zumindest ein kleines „Zeitenwenderl“. 


[i] Bundeskanzleramt (2024): Österreichische Sicherheitsstrategie. Volltext als PDF am Seitenende downloadbar. Siehe: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/sicherheitspolitik/sicherheitsstrategie.html

[ii] Tatsächlich nur Männer.

[iii] Diese Vorgangsweise wurde von den Oppositionsparteien kritisiert, die im Zuge des Prozesses gern intensiver eingebunden gewesen wären. Am Inhalt, konkret an der Annäherung an die NATO stören sich FPÖ und SPÖ.

[iv] Siehe 1. Kapitel 1.1., Seite 6.

[v] Siehe 1. Kapitel 4.3., Seite 26

[vi] „Grundsätzlich“ deshalb, weil militärischer Beistand vorgesehen ist, aber es durch die „Irische Klausel“ Schlupflöcher gibt, die Handlungsspielraum für eine andere Art der Hilfe ermöglichen. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Neutralität im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) werden in einem gesonderten Policy Brief behandelt. Siehe Stellwag, Michael (2023): Neutralität, Sicherheit & Ukraine: Österreich dürfte eigentlich mehr tun. Ponto – Grassroots Think Tank. Veröffentlicht am 15.05.2024. Siehe: https://www.pontothinktank.org/neutralitat-sicherheit-ukraine-osterreich-durfe-eigentlich-mehr-tun-aber-schrankt-sich-entgegen-der-eigenen-interessen-selbst-ein/

[vii] Österreich ist seit 1995 Mitglied der NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP). Seit April 2022 gibt es das Individually-Tailored Parnership Programme (ITPP) zwischen Österreich und der NATO, das als Basis für eine weitere Zusammenarbeit im Bereich Resilienz, Sicherheit und Weiterentwicklung des österreichischen Bundesheeres dient. Siehe Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten / Sicherheitspolitik: https://cms.bmeia.gv.at/themen/sicherheitspolitik

[viii] Siehe 1. Kapitel 4.3., Seite 26

[ix] Hinzu kommt, dass nur 13% zustimmen, dass Österreich in einem Falle eines Angriffs auf einen anderen EU-Staat bewaffnete Truppen zur Hilfe schicken soll. Austrian Foreign Policy Panel Project (AFP3) (2024): Solidarität und Wehrhaftigkeit. Foreign Policy Lab, Universität Innsbruck. Siehe: https://afp3.at/dashboard-w2f.html

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