Der Begriff „Osteuropa“ ist im europa- und außenpolitischen Diskurs durchaus präsent – dabei ist jedoch keineswegs eindeutig, welche Gebiete und Länder diese Region genau umfasst. Zählt beispielsweise der asiatische Teil Russlands dazu? Oder gehören Zentralasien und der Kaukasus noch zu (Ost-)Europa? Wo liegen die Grenzen Osteuropas?
Welche Länder gehören zu „Osteuropa“?
Gemäß EuroVoc, dem mehrsprachigen Thesaurus der EU, gehören zur Kategorie „Mittel- und Osteuropa“ (Central and Eastern Europe) folgende Staaten: Albanien, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kroatien, die Tschechische Republik, Mazedonien (Former Yugoslav Republic of Macedonia, FYROM), Ungarn, Kosovo, die Republik Moldau, Montenegro, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Montenegro, die Slowakei, Slowenien und die Ukraine.[1]Auch die OECD verwendet die Bezeichnung „Mittel- und osteuropäische Länder“, wobei dieser Begriff die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen einschließt, jedoch andere post-sowjetische Staaten sowie mit Ausnahme der heutigen EU-Staaten Slowenien und Kroatien die post-jugoslawischen Staaten ausschließt.[2]Ähnlich lautet die Definition „Osteuropas“ gemäß der Statistischen Abteilung der UNO, welche die Nachfolgerstaaten Jugoslawiens ebenfalls nicht einschließt und diese Südeuropa zuordnet. Allerdings gelten hier die baltischen Staaten seit 2017 nicht mehr als Teil „Osteuropas“, sondern zählen zu Nordeuropa, womit deren Definition von „Osteuropa“ gerade zehn Statten umfasst -die südkaukasischen Staaten werden hier wie die zentralasiatischen zu Asien gezählt.[3]Diese unterschiedlichen Definitionen zeigen, dass der Raum des östlichen Europas nicht nur unterschiedlich bezeichnet wird, sondern ebenso unterschiedliche geographische Umrisse beinhaltet und so sowohl die Begriffsbezeichnungen als auch die Grenzen dieser Region durchaus fluid sind.
Was sind die prägenden Strukturmerkmale von „Osteuropa“?
Doch was macht Osteuropa als spezifische Region aus? Der Name deutet bereits darauf hin, dass diese Region im östlichen Teil Europas liegt. Doch neben den teils unklaren Grenzen Europas – gehört beispielsweise der Kaukasus dazu oder nicht? – ist keineswegs klar definiert, wo denn der „Osten“ Europas beginnt. Wien wird zwar oft als „Tor zum Osten“ bezeichnet, jedoch wird Österreich kaum als zu Osteuropa zugehörig gedacht, obwohl Wien beispielsweise östlicher als Prag, der Hauptstadt Tschechiens, das in allen obigen Definitionen zum Raum Osteuropa bzw. Mittel- und Osteuropa zugezählt wurde, liegt. Zudem besitzt Wien als Hauptstadt der ehemaligen Habsburgermonarchie viele historische Bezüge zum sog. Osteuropa. Ebenfalls strittig ist, inwiefern das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu Osteuropa gezählt werden kann, zumal das Vorherrschen sozialistischer Regimes und/oder die Zugehörigkeit zum Ostblock während des Kalten Krieges häufig als prägendes Strukturmerkmal dieser Region genannt wird. Falls man jedoch auf Grundlage dieses Kriteriums eine Region „Osteuropa“ abgrenzen will, so müsste man auch alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion dazurechnen, wodurch auch die ehemals zentralasiatischen Sowjetrepubliken[4]zu Osteuropa zählen würde. Gleichzeitig gab es ja auch außerhalb Europas und der oben genannten Grenzregionen während des Kalten Krieges sozialistische Regimes, die unter dem Einfluss der Sowjetunion standen und teils Mitglieder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem sozialistischen Pendant zum Marshallplan und zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, später OECD), waren und daher manchmal ebenso zum sog. Ostblock zählten, wie etwa im Falle Kubas, Nordvietnams, Nordkoreas, der Mongolei oder der Volksrepublik China. Darüber hinaus waren Jugoslawien ab 1948 und Albanien ab 1961/68 nicht mehr Teil des Ostblocks; allerdings liegen beide Länder auf der sog. Balkanhalbinsel -ein Begriff, der oft synonym mit Südosteuropa verwendet wird -, wodurch sie landläufig ebenfalls zu Osteuropa gezählt werden. Dass diese geographische Lage jedoch nicht automatisch ein Zugehörigkeitskriterium zu Osteuropa darstellt, zeigt das Beispiel Griechenlands, das in keiner der oben genannten Definitionen aufgeführt wurde.
Auch wenn man auf frühere historische Strukturmerkmale zurückgreift, werden die Grenzen Osteuropas keineswegs schärfer umrissen. Denn im Falle Südosteuropas war beispielsweise die über rund vier Jahrhunderte währende Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich prägend, wobei dessen Zugehörigkeit zu Europa ebenfalls umstritten ist, wurde dieses doch von europäischen ZeitgenossInnen häufig als „Asien“ und „Orient“ wahrgenommen. Bezüglich des Kaukasus und Zentralasiens wiederum, die oftmals nicht als zu Europa gehörend wahrgenommen werden, muss bemerkt werden, dass diese Gebiete im Laufe des 19. Jahrhundert unter russländische Herrschaft kamen und so weit vor Beginn des Kalten Krieges Teil der russländischen Geschichte wurden. Gleichwohl ist und war umstritten, ob Russland überhaupt als Teil Europas gezählt werden kann, zumal der größte Bereich seines heutigen Staatsgebietes auf dem asiatischen Kontinent liegt (auch wenn die innereurasische Grenzziehung ja nur der Konvention und weder geografisch-naturräumlichen noch völkerrechtlichen Grundlagen obliegt).
Welche Einflüsse herrschen in den Grenzregionen „Osteuropas“ vor?
Die hier dargelegte, grobe Skizzierung der Problematik einer klaren geografischen Abgrenzung eines Raumes „Osteuropa“ weist darauf hin, dass die Definition des Begriffes „Osteuropa“ durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Dies sollte auch von AkteurInnen in der aktuellen internationalen Politik berücksichtigt werden: Der Raum des östlichen Europas ist keineswegs homogen und unterliegt unterschiedlichen historischen, kulturellen und politischen Einflüssen, die gerade in Grenzräumen des östlichen Europas besonders spürbar sind. Etwa in Zentralasien spielt Russland zwar immer noch eine wichtige wirtschaftliche und politische Rolle – nicht zuletzt sind Kasachstan und Kirgisistan auch Mitglieder der 2014 gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion -, allerdings nimmt der Einfluss Chinas stetig zu. In Kirgisistan, Usbekistan und Turkmenistan wird sogar mehr Handel mit China als mit Russland betrieben.[5]Ebenso in Südosteuropa sind diese unterschiedlichen Einflüsse sichtbar: So war beispielsweise in Bosnien und Herzegowina 2016 der größte Investor das Nachbarland Kroatien (60.8 Mio EUR), gefolgt von Österreich (37.8 Mio EUR) und den Vereinigten Arabischen Emiraten (33.7 Mio EUR). Weitere signifikante Investoren waren neben EU-Staaten Saudi-Arabien (17.2 Mio EUR), Kuwait (15.1 Mio EUR) und die Türkei (15.4 Mio EUR).[6]Nicht nur auf der wirtschaftlichen, sondern auch auf der politischen Ebene werden in Bosnien mit unterschiedlichen Akteuren wie der EU, Russland oder der Türkei enge Beziehungen gepflegt. Nicht zuletzt spielt genauso Österreich, neben dessen bedeutenden Investitionen, hier eine wichtige Rolle, was wiederum auf die engen österreichischen Beziehungen zu osteuropäischen Staaten hinweist: Der derzeitige Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ist etwa nicht nur der zweite Österreicher in dieser Position, sondern auch die am längsten amtierende Person (seit über 9 Jahren); und seit 2009 sind die Befehlshaber der EUFOR-Truppen in Bosnien-Herzegowina stets Österreicher.
Diese hier skizzierten Beispiele zeigen, dass die verschiedenen Länder und Teilregionen „Osteuropas“ unterschiedlichen Einflüssen unterliegen, die nicht unberücksichtigt gelassen werden können. Dies wird gerade an den Rändern des östlichen Europas evident, zumal dessen Grenzen fließend verlaufen und von der jeweiligen Betrachtungsweise abhängen. Bei Ponto möchten wir dem genügend Beachtung schenken, indem wir keine absolute Osteuropa-Definition übernehmen, sondern die Berücksichtigung gewisser Länder und Subregionen von der gewählten Fragestellung und Perspektive abhängig machen.
Fotocredit: Judy Hart
Weiterführende Literatur
Einen einführenden Überblick über die relevanten historischen Strukturmerkmale Osteuropas und dessen Teilregionen bietet: Ekaterina Emeliantseva, Arié Malz, Daniel Ursprung, Einführung in die Osteuropäische Geschichte (Zürich 2008).
Mehrere historische Fallstudien zu Randregionen „Osteuropas“ und deren Verbindungen mit anderen Teilen des östlichen Europas aus unterschiedlichen Epochen liefert folgende Aufsatz- und Essay-Sammlung von Stefan Troebst: Stefan Troebst, Zwischen Arktis, Adria und Armenien. Das östliche Europa und seine Ränder (Köln/Weimar/Wien 2017).
Eine kurze Studie zum steigenden wirtschaftlichen Einfluss Chinas in Zentralasien: Stratfor Worldview, Central Asia’s Economic Evolution From Russia To China, 05.04.2018, online unter https://worldview.stratfor.com/article/central-asia-china-russia-trade-kyrgyzstan-kazakhstan-turkmenistan-tajikistan-uzbekistan (21.08.2018).
Folgender Zeitungsartikel skizziert die verschiedenen gegenwärtigen geopolitischen Interessen in Südosteuropa: Adelheid Wölfl, Der Balkan wird zum Versuchslabor geopolitischer Interessen. In: Der Standard, 19.08.2018, online unter https://derstandard.at/2000085631406/Der-Balkan-wird-zum-Versuchslabor-geopolitischer-Interessen (26.08.2018).
Autorin
Ninja ist Mit-Initiatorin des Programmbereichs „Osteuropa“und zudem bei Ponto für die Bereiche Administration und Community Management zuständig. Sie hat ein Studium in Osteuropäischer Geschichte absolviert und forscht derzeit zu Ehen und Geschlechterverhältnissen in der islamischen Rechtspraxis im habsburgischen Bosnien-Herzegowina.
Literaturnachweise
[1]EuroVoc. Multilingual Thesaurus of the European Union, Central and Eastern Europe, online unter http://eurovoc.europa.eu/914(26.08.2018).
[2]Konkret umfasst diese Bezeichnung der OECD folgende Staaten: Albanien, Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen. Vgl. OECD Glossary of Statistical Terms, Central and Eastern European Countries (CEECS), 25.09.2001, online unter https://stats.oecd.org/glossary/detail.asp?ID=303 (26.08.2018).
[3]Zu Osteuropa zählen hier: Belarus, Bulgarien, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, Polen, die Republik Moldau, Rumänien, Russland und die Ukraine. Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_geoscheme_for_Europe (18.09.2018).
Allerdings ist die „Osteuropäische Gruppe“ der regionalen Gruppierung der UN-Mitgliedstaaten viel umfassender und schließt sowohl die NachfolgestaatenJugoslawiens als auch der Sowjetunion mit ein. Einzig Kosovo, dessen völkerrechtliche Stellung ja durchaus umstritten ist, ist hier nicht vertreten. Folgende Staaten zählen zu dieser „Osteuropäischen Gruppe“: Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Estland, Georgien, Ungarn, Lettland, Litauen, Montenegro, Polen, Moldova, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, FYROM und die Ukraine. Vgl. United Nations, United Nations Regional Groups of Member States, 09.05.2014, online unter http://www.un.org/depts/DGACM/RegionalGroups.shtml (26.08.2018).
[4]Heute sind das die Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan.
[5]Stratfor Worldview, Central Asia’s Economic Evolution From Russia To China, 05.04.2018, online unter https://worldview.stratfor.com/article/central-asia-china-russia-trade-kyrgyzstan-kazakhstan-turkmenistan-tajikistan-uzbekistan (21.08.2018).
[6]Foreign Investment Promotion Agency of Bosnia and Herzegovina, FDI Position and Performance, online unter http://www.fipa.gov.ba/informacije/statistike/investicije/default.aspx?id=180&langTag=en-US (26.08.2018).
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